Der 9. Mai und das Erbe der Lüge

Die heutige Welt ruht auf einem Pakt mit dem Teufel – solange Moskaus Mythos lebt, bleibt Europa unfrei.

Der 9. Mai wird in Moskau als Tag des Sieges über den Faschismus gefeiert – mit Pomp, Militärparaden und einer staatsreligiösen Inszenierung des „Großen Vaterländischen Kriegs“. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Dieses Ritual markiert nicht das Ende des Totalitarismus in Europa, sondern seine bis heute fortwirkende Legitimation. Der Zweite Weltkrieg ist nicht vorbei – weil sein Erbe nie wirklich aufgearbeitet wurde.

Was die westliche Welt als Sieg der Freiheit feiert, war in Wahrheit ein historischer Kompromiss: Die Alliierten besiegten Hitler, aber sie verschonten Stalin. Der Architekt des Gulag wurde zum Mitbegründer der Nachkriegsordnung. Der Preis für den Sieg war ein Pakt mit dem Totalitarismus – ein faustischer Handel, der das Fundament der heutigen Weltordnung bis in ihre Institutionen hinein prägt.

Das sichtbarste Symbol dieser historischen Verdrängung steht in New York: Russland, das sich selbst als legitimer Nachfolger der Sowjetunion versteht, verfügt bis heute über ein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat – als angeblicher Sieger über den Faschismus. Dass gerade ein Staat, der heute selbst einen imperialen Angriffskrieg führt, über die Grundpfeiler der internationalen Ordnung mitentscheiden darf, ist kein Unfall. Es ist Teil des Systems. Die Vereinten Nationen wurden nicht gegen den Totalitarismus gegründet – sondern mit ihm.

Auch Deutschland trägt dieses Erbe. In unzähligen Städten stehen sowjetische Ehrenmale, oft gut gepflegt, regelmäßig mit Kränzen geschmückt. Sie erinnern nicht an die Opfer der Tyrannei, sondern ehren die Sieger – jene, die Ostdeutschland besetzten, Oppositionelle verfolgten und ein ganzes halbes Europa in die Diktatur zwangen. Diese Denkmäler stehen nicht für Befreiung, sondern für Unterwerfung.

Noch absurder ist die westliche Bereitschaft, jahrzehntelang am 9. Mai an der Seite des Kremls zu marschieren – um gemeinsam den Sieg über den Faschismus zu feiern. Mit einem Regime, das den Faschismus heute zur ideologischen Waffe gegen die Ukraine gemacht hat. In Putins Russland ist die rote Siegeserzählung zur offiziellen Doktrin geworden: Wer widerspricht, ist ein „Nazi“. Wer sich wehrt, wird vernichtet – im Namen jener angeblichen antifaschistischen Mission, die längst zur zynischen Propaganda mutiert ist.

Der Angriff auf die Ukraine zeigt: Die imperiale Logik des Sowjetreichs ist nicht tot. Sie wurde nie umfassend delegitimiert – weder moralisch, noch politisch. Der Westen hat es verpasst, die rote Gründungslegende zu entzaubern. Er hat das ideologische Fundament Putins unangetastet gelassen – und so mitgetragen, was er heute bekämpft.

Solange Moskau über den Verlauf internationaler Konflikte mitentscheiden kann, solange seine Propagandamythen in westlichen Hauptstädten akzeptiert, seine Ehrenmale gepflegt und seine Narrative übernommen werden, bleibt Europa unfrei. Der Kreml ist kein Mahnmal, das man respektvoll bestehen lässt. Er ist das Machtzentrum eines imperialen Kontinuitätsbruchs – und die Lüge, auf der unsere Weltordnung nach 1945 erbaut wurde, bleibt ungebrochen.

Der 9. Mai ist der Tag, an dem diese Lüge jedes Jahr aufs Neue gefeiert wird. Es wird Zeit, ihr endlich zu widersprechen.